Wie IQoro in die welt kam: Die Forscherin erzählt
Mit rund 40 Jahren, also mitten im Leben, konnte der Patient noch nicht einmal den eigenen Speichel schlucken und wurde deshalb über eine Magensonde ernährt. Eine Lähmung der rechten Gesichtshälfte verursachte einen so starken Speichelfluss, dass die Kleidung nur mit einem Latz halbwegs trocken blieb.
Knapp zwei Jahre zuvor hatte der Mann einen Schlaganfall erlitten. Als sich sein schlechter Zustand einfach nicht bessern wollte, wurde er zunehmend depressiv. Dies zu sehen, erlebte Dr. Mary Hägg als sehr frustrierend, denn der Patient war alles andere als ein Einzelfall.
Hier erzählt eine hartnäckige Forscherin, wie aus ihrer These zu einer revolutionären Behandlungsmethode das neuromuskuläre Trainingsgerät IQoro wurde und schließlich auf den Markt kam – nach 20 Jahren und dank der Arbeit von zwei Generationen.
Die Verwandlung
Dr. Hägg hatte sich intensiv mit neurologischen Themen befasst und fand, dass die vorhandenen Behandlungsmethoden zu wenig und zu langsam Wirkung zeigten.
– Auch ging für die Patienten und für mich als Krankenhauszahnärztin viel Zeit ins Land, bis die Behandlung überhaupt beginnen konnte. Wenn es Patienten aber z. B. nach einem Schlaganfall wirklich schlecht geht, ist das sehr frustrierend. Meist stellt diese Diagnose das Leben ohnehin völlig auf den Kopf, und die Menschen brauchen so schnell wie möglich Hilfe, ist Dr. Hägg überzeugt.
Aber könnte man diesem und all den anderen Patienten nicht viel effektiver helfen, als es bisher möglich war?
Dabei hatte sie bereits eine Hypothese, nach der man diesen Menschen viel effektiver helfen könnte, als es bisher möglich war. Und besagter Patient bot ihr die Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen.
Nach sechs Wochen kam der Patient zur Nachsorge und war wie verwandelt – das Ergebnis übertraf alle Erwartungen.
– Ich konnte seinen Zustand gar nicht fassen und war einfach zu Tränen gerührt. Er war wie ein neuer Mensch und strahlte über das ganze Gesicht. Ein breites Lächeln, kein Speichel am Kinn und kein Latz mehr vor der Brust, lässt Dr. Hägg die Begegnung Revue passieren, die offensichtlich auch heute noch starke Emotionen weckt.
– Der Patient saß aufrecht in seinem Rollstuhl und strahlte eine Selbstsicherheit aus, die mir mitten ins Herz ging. Ein wenig nach Worten suchend erzählte er, dass er wieder alles ganz normal essen könne. Sogar Flüssigkeit könne er trinken, solange sie einen Geschmack habe, erinnert sie sich.
Neue Lebensfreude und hoffnungsvoller Blick in die Zukunft
– Nach einem weiteren Monat planten die behandelnden Ärzte die Entfernung der PEG-Sonde. Seine Frau erzählte, dass ihr Mann seine Lebensfreude wiedererlangt habe und die ganze Familie voller Hoffnung in die Zukunft blicke.
Doch dies ist nicht die Geschichte einer Wunderheilung, sondern der Patient hatte einen ersten Prototyp von IQoro getestet. Doch bis auch die Allgemeinheit von dieser Neuentwicklung profitieren konnte, sollten weitere 20 Jahre vergehen.
Vorher musste Dr. Hägg nämlich nachweisen, worauf die Verwandlung des Patienten beruhte.
Behandlung in der Ära vor IQoro
Vielleicht muss man sich die früher zur Verfügung stehende Behandlung ansehen, um zu verstehen, warum Mary Hägg unbedingt etwas ändern wollte.
Damals kam bei Schluckstörungen eine individuell angefertigte Gaumenplatte mit verschiedenen Metallsensoren zum Einsatz.
Dass die Patienten so lange warten mussten, bis die Behandlung überhaupt begann, fühlte sich nicht gut an.
– Bis eine solche Platte zur Verfügung stand, vergingen mindestens zwei Wochen. Zuerst wurden Abdrücke beider Kiefer genommen und der Bissindex an ein spezialisiertes Dentallabor geschickt. Dieses fertigte die Konstruktion dann nach meinen Zeichnungen an. Es folgten eineinhalb Stunden Training am Tag, bei dem ein bestimmter Bewegungsablauf eingehalten werden musste, beschreibt Dr. Hägg die damit ausgesprochen komplizierte Behandlung.
– Dass die Patienten so lange warten mussten, bis die Behandlung überhaupt begann, fühlte sich nicht gut an. Schon die Abnahme der Abdrücke kann bei einer Schluckstörung sehr belastend sein.
Dies hätte den Patienten aus unserer Geschichte also eigentlich erwartet, als er sich in der Klinik vorstellte.
Mary Häggs These
Doch Mary Hägg hatte eine These, auf deren Grundlage sie das neuromuskuläre Trainingsgerät IQoro und die damit verbundene Behandlungsmethode entwickelte.
Bei Kindern dient der Mund als Schlüssel zur Wahrnehmung und Einordnung der Umwelt, weshalb er für ihre Entwicklung so wichtig ist.
– Kleinkinder nehmen alles in den Mund, wie sich die Eltern unter Ihnen vielleicht noch erinnern. Dabei dient der Mund als Schlüssel zur Wahrnehmung und Einordnung der Umwelt, weshalb er für die kindliche Entwicklung so wichtig ist, erklärt Mary Hägg.
– Also müssten sich über den Mund doch auch verloren gegangene Funktionen wiedererlangen lassen, ein bisschen wie bei einer Reset-Taste zur Wiederherstellung der Werkseinstellungen, fährt Mary fort und ergänzt:
– Zu diesen teils lebenswichtigen Funktionen, die wir z. B. durch einen Schlaganfall einbüßen können, gehören das Atmen, Essen, Sprechen oder Lächeln.
Premiere für den Prototyp
Bisher hatte Dr. Hägg noch nicht versucht, ihre Hypothese durch die Behandlung echter Patienten zu untermauern. Die Theorien und Arbeiten dazu lagen allerdings buchstäblich schon in der Schublade.
Im Vertrauen erzählte ich dem Patienten von meiner Hypothese, konnte aber natürlich keinen Behandlungserfolg versprechen.
– In meinem Kämmerlein hatte ich schon einen ersten IQoro-Prototyp konstruiert. Im Vertrauen erzählte ich dem Patienten von meiner Hypothese, konnte aber natürlich keinen Behandlungserfolg versprechen. Der Patient und seine Familie waren sich aber einig, dass sie nicht viel zu verlieren hätten, unterschrieben eine Vertraulichkeitserklärung und nahmen den ersten IQoro mit nach Hause.
Dort begann er, im Wesentlichen nach den auch heute noch geltenden Anweisungen zu trainieren: 3 Übungseinheiten pro Tag, die vor den Mahlzeiten stattfinden und je 3 Dehnungen à 10 Sekunden umfassen. Da der Patient so stark eingeschränkt war, konnte er allerdings bei der statischen Dehnung den Schaft nicht mit seinen Lippen umschließen und brauchte Hilfe mit dem Kiefergriff.
Der nächsten Generation sei Dank: IQoro kommt auf den Markt
Vom überwältigenden Fortschritt bei diesem Schlaganfallpatienten bis zur internationalen Zulassung und Patentierung des Behandlung gingen über 20 Jahre ins Land.
Im Sommer 2014 brachte das Unternehmen MYoroface AB das Trainingsgerät IQoro schließlich auf den Markt – doch davon wollen wir an anderer Stelle mehr erzählen.
Viele intelligente Innovationen bleiben leider in der Schublade.
– Meine Töchter Ylvali Gerling und Linn Hägg haben MYoroface ins Leben gerufen und leiten das Unternehmen hinter IQoro bis heute. Damit ermöglichen sie immer mehr Menschen die Behandlung der Ursache zahlreicher Beschwerden und bieten außerdem Schulungen für Fachkräfte an. Ohne die beiden hätte meine Innovation nur den Menschen geholfen, denen ich durch meine Forschung begegnet bin, ist Dr. Hägg überzeugt.
Ohne gute Kontakte aus der Branche, die auch in Sachen Vertrieb und Marketing Experten sind, bleiben leider viele intelligente Innovationen von Forschern in der Schublade liegen.
– Wenn das passiert wäre, hätte ich mich im Grabe umgedreht, witzelt Mary Hägg, lässt aber keinen Zweifel daran, wie ernst es ihr mit ihrer Mission ist.